Archiv der Kategorie: Texte

Über eine (Er)Finderin

Karin Weber – Kunstwissenschaftlerin:

„Bilder, nicht Abbilder dehnen das Bewußtsein, weiten den Blick in unbekannte Räume.“ Woldemar Winkler

(1902-2004) Katrin von Egidy ist eine Finderin, die eine Erfinderin ist, eine Zauberin, die ihr magisches Handwerk beherrscht, eine Spielerin, die der Dramaturgie ihrer inneren Geschichten mit Vergnügen folgt. Wie eine Traumtänzerin, allerdings mit logischer Konsequenz, bewegt sie sich in den Bildwelten, die sie selbst erschaffen hat. Alles begann, als sie eine kleine filigrane Stickschere geschenkt bekam. Sie erinnerte sich daran, dass sie als Kind mit großem Interesse die Zigarrrenalben ihres Großvaters durchgeblättert und die Bilder Alter Meister von der Renaissance bis zum Barock verinnerlicht hatte. Es war immer ein männlicher Blick auf die Frau, als Muse, Geliebte, Verführerin oder rätselhafte
Prophetin, den sie erkannte. Aus Kunstpostkarten begann Katrin von Egidy die gemalten Frauen auszuschneiden, um sie aus ihrer zugewiesenen Rolle zu befreien und einer neuen Szenerie zuzuordnen. „Es ging den Frauen danach besser“, sagte sie mir schmunzelnd während eines Atelierbesuches.


Sie lebt und arbeitet auf dem Elbhang in Dresden, mit Blick auf die Stadt. Von hier aus lässt sie ihrer Phantasie freien Lauf. Waren es zuerst Klappkarten, denen sie die ausgeschnittenen Frauenfiguren zuwies, diese mit Goldfäden umspann, in Stoffe hüllte und auf gestanzte Tapetenreste beheimatete, mit weiblichen Accessoires wie Knöpfen und Federn schmückte, wuchs die Perspektive bald. Es drängte sie zu einer räumlichen Bildsprache, die sich zu einer Inszenierung in Schaukästen weitete, die entfernt an barocke Reliquienschreine erinnern mögen. So entstand und entsteht immer wieder neu ein kreatives Flechtwerk des Geistigen und Künstlerischen in der Auseinandersetzung mit
traditionellen Rollenspielen. Die phantasievollen Eingebungen werden aus unterbewussten Inspirationen gespeist, aus Assoziationen mit dem Wissen um eigenen Erfahrungen und Erlebnisse, der Poesie der Philosophie, der Erkenntnisse um die Geschichte der Kunst, aus Automatismen und Zufällen und vor allem aus dem Spieltrieb. 1968 in Leipzig geboren, hat die gelernte Textilkauffrau, Philosophie und Theologie studiert, war Gasthörerin an der Dresdner Kunsthochschule, hat sich als Yogalehrerein und Ergotherapeutin ausbilden lassen. Ihr allumfassendes Thema war die Fragestellung, warum nehmen Menschen die Wirklichkeit verschiedenartig war und warum erleben sie die Wirklichkeit so unterschiedlich. Alle Erkenntnisse ihres bisherigen Lebensweges fließen verwandelt in ihre märchenhaft versponnenen, grotesk romantischen, entrückt bedrängenden, hintersinnig entlarvenden Inszenierungen in „little
boxes“ ein.


Ihre Arbeitsweise ist zu vergleichen mit einem Balanceakt, der die polaren Kräfte von Ratio und Unbewusstem, von Planung und Zufall, Ordnung und Chaos ausgleicht. Sie spielt mit den Kräften und Energien des magisch Irrationalen. Es ist ein Lebensgefühl des Fließens und Verwandelns, das die Künstlerin prägt. Tatsächlich geht es auch hier um Wahrnehmung und Verständnis der Realität in einem Werden.


Sie fügt Fundstücke zusammen. In ihrem kleinen Atelier befinden sich Unmengen von gesammelten Materialien: Knöpfen, Stoffen, Federn, Schwemmholz, ornamentale Papiere, Garne, Bänder, Murmeln, Federn, Tapetenreste, Muscheln, Broschen, Hutnadeln, Kunstpostkarten…


„Irgendwann findet das Material zu sich“, davon ist Katrin von Egidy überzeug. Es warten viele angefangene Kästchen auf die vollendende Inspiration. Durchgestaltet ist dann jeder Zentimeter in den Dioramen. Die zumeist poetischen Titel geben den Bildräumen weitere Dimensionen: Stern von Naxos, Das rote Band, Das Schweigen der Frauen, Dunkle Tage, Wenn Gott würfelt…


Die hintergründige Poesie der Titel öffnen Verschlossenes und Verschließen nicht selten auch scheinbar Offenes. So bleibt ein Geheimnis gewahrt. Die Künstlerin lässt sich ins Unbewusste fallen, um ihre inneren Geschichten, manchmal
detailverliebt, zu realisieren, sie letztlich einem Gedanken, den man sprachlich nicht genau formulieren kann, unterzuordnen, um diesen bewusst zu wandeln. So erhalten die Zusammenstellungen eine magische, ja fast sakrale Funktion, sind sie mit einer geheimnisvollen Aura umhüllt, wobei mitunter auch ein ironischer Aspekt mitspielt. Die perspektivistischen Werke weiten sich. Sie besitzen Ereignischarakter, haben demzufolge Anteil am eigenen Lebensprozess. Der Weg zum Bild ist nicht geplant, er fällt ihr zu: Fund und Erlebnis verbinden sich zur Imagination, die auf dem langwierigen Weg der Gestaltung des Bildes ihre gültige Form findet. Katrin von Egidy ist oftmals nahezu besessen von ihrer Bildidee. So ist es ihr schon passiert, dass sie sich spontan den Rand ihrer Bluse abgeschnitten hat, um den Stoffrest passend in eine Komposition einzufügen.


Nur einem geduldigen Betrachten erschließen sich Vielfalt und Einheit, Materialität und Ordnung als spannungsreiches Glück! Endlos ist es möglich, die materielle und formale Vielfalt zu genießen, da man spürt, es lebt ein „klopfendes Herz“ innerhalb der Freiheit des Geistes. Denn der Fund außen wird von Katrin von Egidy nur gesehen, da es einen Fund innen gibt.


Eine gewisse Wandlung ist nunmehr spürbar, ausgelöst durch ein Stipendium in Norwegen, wo Katrin von Egidy 2019 als „artist in residence“ mit mehreren anderen Künstlerinnen und Künstlern aus aller Welt weilte. Es entstanden „neue Welten“ in hölzernen Kästen. Wie auf einer Bühne inszenierte sie Schwemmhölzer, Angelhaken und Kieselsteine zu ornamental reduzierten, ästhetisch strukturierten Reihungen.

„Wenn ich in meine Arbeit versinke, löst sich der künstliche Begriff der Zeit wieder in seine reale Zeitlosigkeit auf… Sollte nicht das Unerklärliche, was wir Kunst nennen, ein ahnendes Bindeglied zwischen Zeit und Ewigkeit sein?!“ Woldemar Winkler (1902-2004)

Karin Weber
im Januar 2021

„Ja, das ist Kunst“, über Katrin von Egidy

Andrea Dreher – Kunsthistorikerin:

Das Werk des vor 100 Jahren geborenen Universalkünstlers Joseph Beuys wird Republik weit im Jahr 2021 in vielen Ausstellungen und Publikationen gefeiert. Beuys war Künstler, Sozialphilosoph, Politiker, Anthroposoph und Lehrer, er performte und redete, er inszenierte und polarisierte. Fakt ist, dass aufgeklärte Gesellschaften Künstler wie Beuys brauchen, charismatische Menschen also, die wachrütteln und die dabei zugleich viele Menschen erreichen. „Die Freiheit ist das Anwachsen des menschlichen Bewusstseins“ lautet eines der vielen klugen Statements des Krefelder Künstlers Joseph Beuys.


Auch die Dresdener Künstlerin Katrin von Egidy appelliert an die Freiheit in unseren Köpfen, welche niemals einen Status Quo erreichen darf, sondern die täglich neu gedacht und gelebt werden muss. Im Gespräch mit der Künstlerin spürt man sofort den unbedingten Handlungswillen dieser Frau. Die Erfahrungen mit ersten eigenen Ausstellungen beschreibt sie unter anderem mit den Worten „als ob die Leute durch meinen Kopf marschieren“.


Katrin von Egidy will mit ihren Objektkästen keineswegs nostalgisch verkapptes Storytelling betreiben, sondern sie bedient sich bewusst dieses narrativen Elements, um gesellschaftsrelevanten Themen im wahrsten Sinne eine Bühne zu bereiten. Ihre Akteur*innen sind exakt inszeniert und deren Aktionsraum ist von der Künstlerin klar
definiert. Katrin von Egidys kleine Kunstwerke wollen weit mehr als unsere Betrachtung anregen, denn sie suchen die Interaktion mit uns. Was auf den ersten Blick spielerisch daherkommt, kann auf den zweiten Blick echte Diskurse über
tradierte Rollenmuster und Gesellschaftsverhältnisse auslösen, sofern wir uns individuell auf dieses „Spiel“ einlassen.


Dass Katrin von Egidy über viele Umwege zur Kunst kam, ist keineswegs ein Manko, sondern die logische Folge der Biographie einer willensstarken Frau, deren Kindheit von ihrem regimetreuen Elternhaus in der ehemaligen DDR geprägt war. Märchen, Kinderbücher und Zigarettenalben mit historischen Bildmotiven des Großvaters
bezeichnet die Künstlerin rückblickend als „rettende Anker“ ihrer Kindheit. Mit der frühen Liebe zu schönen Dingen und zu schönen Geschichten hatte Katrin von Egidy ihren inneren Speicher gefüllt. Heute spricht sie von ihrem mentalen und emotionalen Zuhause, das über Jahre ihr persönlicher Schatz war und den sie nun (endlich) materialisieren müsse.


Manchmal geschieht es mitten in der Nacht, „dass ein Kasten drängt“, so die Künstlerin, die dann die Nacht zum Tag macht, um die Dinge miteinander sprechen zu lassen. Katrin von Egidy erhebt allerdings keinen pädagogischen Zeigefinger, sie will uns keine Lesart aufzwingen, sondern sie vertraut darauf, dass die Kraft ihrer Symbolsprache und die Ehrlichkeit der verwendeten Mittel so inspirierend sind, dass sie individuelle Lesarten generieren. Natürlich spielt die Betrachter-Perspektive stets eine Rolle, denn es macht einen großen Unterschied, ob wir als Erwachsene oder als
Kinder, als Frauen oder Männer von Egidys Objektkästen betrachten. Im Idealfall schaffen es ihre kleinen Inszenierungen jedoch, uns aus unseren gesellschaftlichen Rollen zu lösen und in spontane Begeisterung ausbrechen zu lassen. Ein erklärtes Ziel dieser Objektkunst ist es, Sichtbares mit Imaginärem zu verweben und so neue „Erlebnis- und Gedankenräume“ zu eröffnen.


„Manchmal gibt es auch Monate ohne Kästen“, sagt von Egidy, und bezeichnet diese vermeintliche Ruhe als existenzielle Wachstumsphase. Erst in einem zweiten Schritt legt sie dann die Größe und Materialität des jeweiligen Objektkastens fest, bevor dann in der dritten Phase die formale Vollendung, also der „handwerkliche“ Teil folgt.
Hierbei profitiert die Künstlerin nach eigenem Bekunden auch von ihrer Berufserfahrung als Ergotherapeutin mit dem Schwerpunkt auf neurologischer Wahrnehmung.


Wir leben in einer Zeit der digitalen Reizüberflutung, in der zwar alles „online“ verfügbar ist, in der sich aber analoge Defizite nachweislich häufen. Vielen Menschen fehlt inzwischen das persönliche Gespräch, viele Menschen sehnen sich
nach haptischen Erfahrungen (zumal in Zeiten der Pandemie), und nicht wenige Menschen sind mittlerweile sensomotorisch blockiert. Deswegen kommt die Kunst Katrin von Egidys genau zur richtigen Zeit, denn sie bildet eine Brücke zu den Bildgeschichten des vergangenen Jahrhunderts, als Kunst regelmäßig antrat,
Menschen für „das Andere“ zu sensibilisieren und die Gesellschaft zu verändern. Begeben wir uns auf die Suche nach kunsthistorischen Wurzeln, so landen wir bei der Kunst des Surrealismus, wo das „Wunderbare“ und die Bildmethode der Kombinatorik Impulsgebend waren. Kombinatorik ist ein Verfahren der Befreiung von vorgefertigten Bildern, welches nicht Zusammengehöriges in einen neuen Kontext gestellt wird, mit dem Ziel, Wirklichkeit zu entfremden und Unbewusstes ans Tageslicht zu fördern.


1936 erregte Meret Oppenheims „Frühstück im Pelz“ – eine Kaffeetasse mit Untertasse und Löffel, überzogen mit Gazellenfell – für großes Aufsehen in der Pariser Galerie Ratton. Oppenheim stand zwar lange im Schatten der von Männern dominierten Surrealisten-Szene, ließ sich aber nie vereinnahmen. „Jeder Einfall wird geboren mit seiner Form. Ich realisiere die Ideen, wie sie mir in den Kopf kommen. Man weiß nicht, woher die Einfälle einfallen; sie bringen ihre Form mit sich. So wie Athene behelmt und gepanzert dem Haupt des Zeus entsprungen ist, kommen die
Ideen mit ihrem Kleid“, beschrieb die 1985 verstorbene Meret von Oppenheim ihren künstlerischen Weg und scheint mit dieser Selbstanalyse eine direkte Wegbereiterin für Katrin von Egidy zu sein.


Die Dresdenerin suchte bzw. brauchte jedoch weder Vorbilder noch kunsthistorische Bezüge und Verankerungen. Dennoch lässt sich ihre Objektkunst sehr überzeugend in einen spannenden historischen Kontext einfügen. Menschen wie Katrin von Egidy liefern den Beweis, dass lineares Denken und strukturiertes Handeln nicht die Ultima Ratio sein muss, sondern dass Kunst auch bedeuten kann, lebenslang zu lernen und in der Folge mit großem Können und Engagement überzeugende Perspektivwechsel zu wagen.

Andrea Dreher

Kunsthistorikerin Ravensburg, Januar 2021